Brief vom 4. April 1760, von Künzli, M. an Sulzer, J. G.

Datum: 4. April 1760

Mein theürester allerliebster Freünd!

Der 16te März, an welchem Sie das liebste, so Sie in dieser Welt gehabt, verlohren haben, war auch ein betrübter ein sehr betrübter Tag für mich, es war der Tag der Begräbniß meines einigen lieben Bruders; Uns hat der Herr hart gezüchtiget; doch nein! mein theürester Freünd! Wir sind nicht in gleichem Fall, ihr Verlust ist ungleich größer als der meine, Sie haben mit ihrer geliebtesten Wilhelmine nur nicht alles in der Welt verlohren; ich muß ihre Betrübniß, ihre Klagen rechtfertigen, denn ich habe ihre selige Gatin, die würdige Helffte meines großen Freündes, meine eigene Freündin, ich habe Sie gekant; mein ganzes Herz nihmt Antheil an ihrem Leid, ich leide mit Ihnen; Ich weine mit Ihnen, Ihr Gedächtniß ist das Andenken eines freündschaftlichen Engels; Ihr Verlust ist für diese Zeit unersezlich, ich begehre Sie nicht zutrösten in Absicht auf dieses gegenwärtige Leben, wenn uns die zukunfft nicht die Widervereinigung hofen ließe, so wäre eine Traurigkeit eine Traurigkeit die keine Schranken hat, eine Pflichte solche zuversäumen wäre Ungerechtigkeit gegen die selig Verstorbene. Da Sie aber nur einige wenige Stunde eher als wir hinter den Vorhang gegangen, dahin auch wir den Anker unser Hofnung geworfen haben, so hat uns dieser Verlust, so hat Sie insonderheit dieser traurige Abtrit nur für wenige Stunde in Betrübniß gesezet: Theürester Freünd! Sie und ich haben unsere Rolle noch nicht vollendet, wir dürfen ihr noch nicht folgen, das Geseze des Höchsten leget uns die Pflichte auf, hier so lange noch zuverweilen, und die Personen zubleiben, dazu wir berufen sind, biß daß auch wir den Wink bekommen abzutreten: Welch eine Glükseligkeit wartet nach diesem Leben auf uns, laßet uns solche beurtheilen nach dem blosen Vorschmak den uns freündschafft und Liebe hier schon gewähren: Indeß wollen wir unserm Got getreü seyn auf unserm Poste, damit wir das beste nicht verlieren, seine Gemeinschafft, und die Gemeinschafft der unsern, der jzt schon verklärten Seelen, die uns zu sich winken, und uns ihren Seegen zulächeln. Sie werden leichte erachten, wie betrübt wie schrekhafft allen den ihren diese so sehr gefürchtete Todes-Post gewesen; [→]Unserm Bodmern habe ich diese Nachricht mit der Post durch unsern Waser, überschreiben laßen, ich selber konte nicht schreiben, weil ich mir nur eine Stunde vor Empfang ihres Trauer-Briefes eine Ader auf dem rechten Arm habe öfnen laßen. Ich weiß gewiß, daß Bodmers Muth tiefer sinket als der ihre, denn dieser liebe Mann ist auch ein Poet wenn er trauret, er vergrößert das Leid, und heißt es nur nicht wie Haller, ein Leid ein ewiges Leid: trauren und den Muth nur nicht ganz sinken laßen, gehören bei uns nicht zusamen: Indeß machet doch diese Zärtlichkeit, daß Bodmer der größte freünd ist, sein ganzes Herz ist freündschafft, das theilet er mit: Ich liebe ihn wie mein eigen Leben: Sein Herz ist mir so theüer als sein großer Geist. Ich habe mit Niemanden von ihren Verwandten gesprochen als mit dem 2ten Sohn des Hrn Amtmans, der jzt des tags ein paar Stunden von mir informirt wird, wie ich Ihnen darüber weitläufftig geschriben habe. Der sagte mir, Sie haben in kurzem seinen ältern Bruder in Condition geholfen. Was dünkt Sie, wie wenn diese 2. Brüder zusamen reiseten, und Sie den jüngern zu sich nähmen: ich hofte er würde Ihnen, da Sie jzt so verlaßen sind, gute Dienste leisten, und zugleich seine Studia beßer als hier fortsezen können. Seine Eltern würden darüber keine Schwierigkeiten machen sondern das vielmehr mit größtem Dank annehmen: Nehmen Sie mir nicht übel daß ich diesen Vorschlag Ihnen thu: Ich liebe Sie, ich lebe für Sie –

Künzli

den 4tn April 1760

Überlieferung

H: SWB, Ms BRH 509/91.

Vermerke und Zusätze

Bibliothekarischer Datumsvermerk auf der ersten Seite: »4 April 1760.«

Eigenhändige Korrekturen

uns zu sich winken
uns schon zu sich winken
mit der Post durch
mit der Post unmit durch

Stellenkommentar

Der 16te März
Wilhelmine Keusenhof-Sulzer starb am 16. März 1760 in Berlin, fünf Monate nach der Geburt ihres einzigen Sohnes, der selbst in diesem Winter verstarben war. Zu ihr vgl. Kittelmann W. Keusenhoff und die Briefkultur der Empfindsamkeit 2019.
einigen lieben Bruders
Martin Künzlis Bruder nicht ermittelt.
Unserm Bodmern habe ich ...
Sulzers Brief an Martin Künzli vom 18. März 1760 ist nicht überliefert. Vgl. die Abschrift, die Künzli von Johann Heinrich Waser für Johann Jakob Bodmer aufsetzen ließ, in: ZB, Ms Bodmer 5a. Abgedruckt in: SGS, Bd. 10/2, S. 1303.
wie Haller
Anspielung auf Hallers Gedicht Antwort an Herrn Johann Jacob Bodmer von 1738, in dem die folgenden Verse stehen: »Wie soll dein Lied mein Leid, mein ewig Leid vermindern?/ Kann eines Freundes Schmerz des Freundes Schmerzen lindert?«
das theilet er mit
Die zitierten Sätze sind wohl dem Antwortbrief Bodmers an Künzli entlehnt, nicht ermittelt.
dem 2ten Sohn des Hrn Amtmans
Unklar. Der 1759 zum Amtmann in Winterthur gewählte Hans Konrad Lavater hatte nur einen Sohn gleichen Namens.