Brief vom 1. März 1754, von Sulzer, J. G. an Künzli, M.

Ort: Berlin
Datum: 1. März 1754

Mein lieber Freünd.

Ich habe ihren Brief vom vorigen Monat richtig bekommen, und werde der von ihnen gemachten Ordnung genau nachleben, Sie aber müßen sorgen, daß unser Waser auch das seinige thut. Ein ordentlicher Briefwechsel kann viel zu seiner Ermunterung beytragen. Ich trage Ihnen also auf, so oft Sie an mich schreiben wollen, es ihm einen Tag zuvor sagen zu laßen. Ferner bitte ich Sie jedesmal, wenn sie an mich schreiben zu bedenken, daß ich von Ihnen die Nachricht erwarte, daß meine aus Magdeb. an unsern Freünd geschriebene Briefe aus der Welt vertilget sind. Warum soll ich in Besorgniß stehen, daß andere lesen, was ich vor allen andern habe verbergen wollen? Soll ich dieses zu einer Bedingniß machen, ohne welche Sie mich niemals wieder in der Schweiz sehen werden?

Es ist gar nicht aus Vergeßenheit, daß ich Ihnen auf diesen Artikel aller ihrer Briefe nicht geantwortet habe. Ihre Abreise von hier hat mir so sehr schmerzhafte Empfindungen verursachet, daß ich mich schwerlich werde entschließen können, mich denselben noch einmal auszusezen; ja ich kann vermuthen, daß sie noch stärker seyn würden, wenn ich von Ihnen und so viel andern Freünden noch einmal scheiden müßte. Indeßen läßt sich von unsern künftigen Entschließungen nicht viel sagen. Es ist möglich, daß meine Furcht durch andere Gründe einmal kann überwogen werden. Indeßen wollen wir uns, durch ein beständiges und lebhaftes Andenken uns so nahe bleiben, als möglich ist. Ihr Andenken ist hier so frisch, als wären sie gestern noch hier gewesen. Die kleine Mine aber übertrifft uns alle hierin. So ofte sie in meine Stube kömmt stellt sie sich gegen ihr Bild, ruft Sie mit Nahmen und wirfft Ihnen ihre unschuldigen Küße zu. Oft mußte ich ihr Bild herunter sezen, als denn geht das schmeicheln und streicheln der Baken so sehr an, daß ich selber darüber erstaune. Wie kann ein so junges Gemüth so viel Zärtliches Andenken behalten! Oft will sie meine Stube, wenn ich abwesend bin, und wenn ihre Mamma sagt, Papa ist nicht da, so antwortet die Kleine, Hr. Künzli ist doch da!

Ich habe nun meine kleine angenehme Familie so nahe um mich, als möglich ist, in dem Zimmer wo wir speißten, da Sie bey uns waren, ist meine Willhelmine, und in der Stube, die zwischen meiner und ihrer ist, wohnt unsre Jugend, so daß wir alles hören was bey dieser vorgeht, und diese Einrichtung sezet mich außer Sorgen, daß diese Kleinen durch ihre Aufwärterinnen verdorben werden. Dieses macht nun zwahr, daß ich oft in meinen Verrichtungen gestört werde, insonderheit, da die Mine sehr oft anklopft um zu mir zu kommen, aber ich habe selten wichtigere Verrichtungen, als die sind, die zur Erziehung gehören.

Und so haben wir denn bisdahin diesen Winter ganz vergnügt zugebracht. Mir fehlt in der That zu dem höchsten Grad einer irdischen Glükseeligkeit nichts als ein Freünd. Mein Künzli, würde mir das Leben zur vollkomenen Seeligkeit machen. Aber wo ist der, dem gar nichts fehlt?

Die jungen Hrn. aus Z. sind noch immer hier. Aber nun befürchte ich sehr, daß mir auch diesmal es nicht gelingen wird einen Z. -– r so von mir zu laßen wie ich wünschte und wie man es von mir erwartet. Hr. E. ist zu keiner Arbeit und zu keinem Vertrauen auf guten Rath zu bringen. Er bringt seine Zeit mit unnüzen Besuchen und noch unnüzern Beschäftigungen zu. Es fehlt ihm wenig um ein rechtschaffener Mensch zu werden, aber dieses wenige wird er schwerlich jemals erlangen. Hr. O. ist ein redlicher Mann, der sich mit mir betrübt, daß sein Untergebener sich nicht eyfrig erzeiget ein rechtschaffener Man zu werden. Er hat viel Erfahrung und schikt sich wol dem alzugroßen Geist der Verschwendung seines jungen Hrn. Wiederstand zu thun. Aber dieses ist auch alles, was er ihm nüzt. Denn weder er, noch irgend ein Mensch, kann sich bey Hrn. E. Vertrauen erwerben. Die mögen es verantworten, die diesen nicht übel gearteten Menschen erzogen haben.

Die zwey leztern Stüke meiner Theorie des sentimens sind nun gedrukt, ich werde suchen Ihnen die Correctur Bogen davon zuschiken. Wenn ich einmal in gehorige Muße kommen, so werde ich diese Sachen gehörig ausarbeiten; Denn ich sehe wol, daß vieles eine größere Deütlichkeit im Beweisen und eine weitere Ausführung in der Anwendung nöthig hat: So bald ich mit der Theorie du bonheur zustande bin, werde ich Ihnen den Plan davon schiken. Der Plan von meinem Haus soll unvergeßen bleiben. Ich habe ihn würklich hier und warte nur auf eine Gelegenheit ihn zuschiken.

Neües weiß ich nichts daran Ihnen könnte Gelegen seyn.

So weit bin ich vor 10 Tagen mit diesem Brief gekommen, den übrigen Plaz wollte meine Frau anfüllen, allein sie wurd unpäßlich, und ich hielt so lange an, bis ich Ihnen ihre Beßrung berichten konte, die nun Gott Lob erfolget ist, doch kann ich ihr noch nicht zumuthen zuschreiben. Sie grüßet Sie herzlich.

Aus Halle vernihmt man, daß der gute Wolff zusehends stirbt, und also nicht mehr lange wird dauren können. Mit ihm stirbt wol der lezte Weltweise des Leibnizischen Jahrhunderts. Adieu mein lieber Freünd. Ein ander mal werde ich mit meinen Brief die Zeit beßer halten als diesmal. Fahren Sie fort mich zu lieben.

Sulzer

den. 1 März. 54.

Der junge Leßing ist mir von Person nicht bekannt. Er ist hier Zeitungsschreiber bey einem Buchführer. Aus seiner gar groben Critik gegen Lange (worin er jedoch in der Hauptsache recht hat) sehe ich daß er noch einige Jahre zurüklegen muß, ehe er solide wird.

Überlieferung

H: SWB, Ms BRH 512/72.

Eigenhändige Korrekturen

Warum soll ich
Warum sollen ich
als denn geht das
als denn gehts das
was bey dieser
was bey Ihnen dieser
ist auch alles, was
ist auch walles, was

Stellenkommentar

Ihre Abreise von hier
Künzli hatte von Mitte August bis zum 23. September 1753 bei Sulzer gewohnt. Vgl. SGS, Bd. 10/1, S. 256. Dieser schrieb auch bereits am Tag darauf seinem Freund auf der Reise nach Leipzig (Winterthurer Bibliotheken Ms BRH 512/72).
Die kleine Mine
Sulzers erste Tochter Henriette Wilhelmina.
ihr Bild
Nicht ermittelt, vgl. auch Brief letter-s-kuenzli-1750-11-15.html.
unsre
Henriette Wilhelmina (Mine bzw. Melisse genannt) sowie die jüngere, 1753 geborene Tochter Elisabetha Sophie Augusta, später Ehefrau Anton Graffs.
Z.
Zürich.
Hr. E.
Johannes Escher vom Glas (1734–1784). Vgl. Bodmer an Sulzer, Zürich, 6. Dezember 1753: »Ich erwarte von Ihnen daß sie Hn Escher zu einem menschen bilden, der mich besuchen kann, und sich bey mir nicht ennuyirt; der auch allein seyn kann, ohne sich selbst zur last zu seyn, der mich mit Empfindung lesen kann. Schon so mancher Züricher hat uns fehlgeschlagen, es wäre doch einmal zeit, daß wir einen auf unsre Seite bringen können.« (SGS, Bd. 10/1, S. 267).
Hr. O.
Eschers Stiefvater war der Zürcher Kaufmann und Agronom Hans Jakob Ott (1715–1769), der 1737 Anna Gossweiler, seit 1734 verwittwete Escher, geheiratet hatte.
Stüke meiner Theorie des sentimens
J. G. Sulzer, Théorie des sentimens agréables et désagréables, 1753–1754. Sulzers wichtige akademische Abhandlung besteht aus vier Teilen, die er in den Jahren 1751 und 1752 in der Sitzung der Akademie vortrug.
Theorie du bonheur
J. G. Sulzer, Essai sur le bonheur des Êtres intelligens, 1756.
der gute Wolff
Christian Wolff starb am 9. April 1754 in Halle, wo er seit 1743 als Kanzler der Universität eine zentrale akademische und politische Persönlichkeit war.
Der junge Leßing
Gotthold Ephraim Lessing war seit 1750 im publizistischen Umfeld Berlins bekannt.
Critik gegen Lange
1753 veröffentlichte Lessing eine Kritik über Samuel Gotthold Langes Übersetzung der Oden und der Ars Poetica von Horaz in der Staats- und gelehrten Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten. Darauf reagierte Lange mit einem Schreiben an den Verfasser der gelehrten Artikel in den Hamburgischen Correspondenten [...], die zu einem publizistischen Streit mit Lessing führte. Lessing erweiterte daraufhin seine Kritik in Ein Vade Mecum für den Hrn. Sam. Gotth. Lange Pastor in Laublingen in diesem Taschenformate ausgefertiget.

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Kommentar: Baptiste Baumann
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